Château d’Orion - Zeichnungen, Geschichten, Gedanken

Von Theresa Ciroth - Praktikantin vom 13. März – 25. April 2022

Meine Zeit in Orion hat sich angefühlt, als hätte ich die Einladung erhalten, ein kostbares Geschichtenbuch betreten zu dürfen, denn – vom ersten Moment an habe ich das Gefühl gehabt, am genau richtigen Ort zum genau richtigen Zeitpunkt angekommen zu sein, und in jedem Winkel, hinter jeder Türe, in jedem Gespräch schienen Geschichten anzuklingen. Diesen zuzuhören, sie einzufangen, sie mir zueigen zu machen, die darin enthaltenen neuen Gedanken zu durchdenken, das habe ich Tag für Tag versucht zu tun. Und so erinnere ich meine Zeit dort als Sammlung von Geschichten. ‚Such’ dir gerne einen Serviettenring aus, er ist deiner für die Zeit hier.‘ Mit diesen Worten bin ich im Schloss willkommen geheißen worden – ich kam zur Abendessenszeit an. Welch schöne Geste, die mir sagte: Du gehörst jetzt dazu. Bis zum letzten Abend steckte meine Serviette darin, in Silber gegossene Herzlich- und Dazugehörigkeit.

Gurs – Zukunft der Erinnerung

Kann man erinnern, was man nicht erlebt hat? Wie kann ich Vergangenes erfahren, damit ich es erinnern kann? Wie fühle ich mich gemeint, gemeint als Botschafter*in der Erinnerung respektive unser aller Zukunft? Große Fragen, die exemplarisch und praktisch anhand der anstehenden Studienreise verschiedener deutscher und französischer Schulen nach Südwestfrankreich in das Internierungslager Gurs durchdacht wurden. Viel – im engen Kontakt mit unterschiedlichen Involvierten – haben wir diese Fragen diskutiert und daran ein Programm ausgerichtet. Unser Leitsatz wurde „Ich kann nur erinnern, was ich erfahren habe“ – damit stellten wir uns der oben erst- und zweitgenannten Frage, um den Schüler*innen schließlich hoffentlich das in der dritten Frage formulierte Gefühl des Gemeint-Seins, der persönlichen Relevanz vermitteln zu können. Insgesamt dient die Reise der Gestaltung eines kollektiven Gedächtnisses; unter der Voraussetzung unseres Leitsatzes ist jedoch augenscheinlich geworden, wie entscheidend dabei die individuelle Erinnerung ist. Diese haptisch werden zu lassen bemühen wir uns. Aus diesem Ziel ist eine Reihe verschiedener Impulse entstanden, welche die Brücke zwischen eigener Erinnerung und dem Übertrag an das große Kollektiv, an eine Nachwelt schlagen soll.

Druckware zu Zeichenprojekt

In meine Zeit fiel das Vorhaben des Freundeskreises, einen neuen Flyer zu gestalten – schließlich waren die Vorschläge aus den eigenen Reihen doch so gut und so passend, dass Entwürfe von außen gar nicht mehr nötig waren. Darüber, dass ich trotzdem einfach losgezeichnet habe, ein paar Entwürfe aufs Papier geworfen habe, habe ich aber gemerkt, wie gerne ich gerade zeichne und dass der Petit Salon wie eine Raum gewordene Einladung zum Zeichnen wirkt. Also zeichnete ich weiter…

Zimmerbüchlein

Aus der einen Auftaktzeichnung der Serviettenringe und der Feststellung dank der Flyerentwürfe, dass zu zeichnen gerade genau das Richtige ist, entstand die Idee eine Neuauflage der Zimmerbüchlein zu entwickeln – eine, in der Zimmer für Zimmer eine kleine, kuriose, liebevolle ihm eigene Geschichte in geschriebenem Wort und gezeichneter Miniatur Platz finden. So fragte ich Elke und Tobi aus über Begebenheiten aus den Zimmern, die Gründe für ihre Namen, die dahinterstehenden Erzählungen – und zeichnete.

Geschichten über Geschichten

So wie jedem Zimmer eigene Erzählungen innewohnen, so schlummern die Geschichten der Vergangenheit in jedem Briefumschlag, sämtlichen Gegenständen und Räumen, vor allem aber verbinden sie sich Tag für Tag mit den Geschichten, die neu geschrieben werden, indem gelebt, gelacht, gearbeitet, gedacht, geredet wird. Diese Verbindung aus Bestehendem und im Moment neu Entstehendem habe ich wiederum in kleinen Miniaturen festgehalten, meinen angespritzten Bleistift fest in der Hand. Beinahe allmorgendlich bin ich aufgestanden, bevor der Tag das Schloss mit seinem Treiben eroberte, und setzte mich zeichnend in den Petit Salon, immer unter den wachsamen Augen des Fischreihers. Vielleicht – ich wünsche es mir, Elke und Tobi wünschen es sich – wird aus diesen Zeichnungen und denen aus den Zimmerbüchlein eines Tages ein Buch: auf der einen Seite meine Miniatur, auf der anderen ein Zitat Mme Labbés. In ihrer Weisheit und Wortgewandtheit trägt ihr Gesagtes genauso das Große im Kleinen, wie meine filigranen Zeichnungen doch viel beinhalten. In ihren Sätzen lebt das Schloss fort, verbindet sich beseelte Vergangenheit mit gegenwärtigem Moment. Das Château scheint die Eigenschaft zu besitzen, immer die genau richtigen Menschen zum genau richtigen Zeitpunkt zusammenzuführen. So lernte ich Leonie kennen, die diesen Sommer Referentin einer Denkwoche sein wird. Wir verstanden uns gut, fühlten eine Wellenlänge und sie erzählte mir davon, dass sie gerade mit ihrem Vater einen Verlag für tiefgründige, kunst- und philosophieorientierte Bücher gründe. Ich erzählte von Elkes und meiner Buchidee… Vielleicht wird es dieses Buch schon alsbald geben.

Bild 1: Zauber und Reichtum und festliche Fülle verkörpern die beiden – zu besonderen Anlässen efeuumkränzten – Porzellanfasane. Wie sehr sie an Bedeutung noch dazugewonnen haben, seitdem das Château über so viele Hindernisse, Rückschläge und Hiobsbotschaften – für mich durch den Termitenbefall verkörpert – von neuem Leben erfüllt ist. Davor habe ich Hochachtung.

Bild 2: So liebevoll, so festlich sind Tag um Tag, Mahlzeit um Mahlzeit gestaltet gewesen. Aus kostbaren Lebensmitteln, achtsamer Verarbeitung, liebevoller Dekoration und sogar noch dem alten Hochzeitsgeschirr der Reclus-Larrouys sind beispiellose Festmahle geworden.

Bild 3: Wie reich die Natur um das Schloss herum ist. Von zartester Schönheit sind die wilden Orchideen, die fragil und wie im Nadelstreifenanzug aus dem dichten Gras hervorlugen.

Was bleibt?

– eine Frage, die Elke und Tobi sich oft stellen und auch konkret in Bezug auf die Menschen, die zeitweise Teil des Schlosses sind. Tja, was bleibt? Von mir bleiben dort eine neue Auflage Zimmerbüchlein, ein Schwung Zeichnungen, viele Gedanken zu unserem künftigen Erinnern und dem der deutsch-französischen Schüler*innen, ein zufällig entstandenes Dessert unter dem Stichwort der Serendipität, das Ritual zu Ostern Eier mit Damenstrümpfen, Pflanzenblättern, Knoblauchnetzen und Zwiebelschalen zu färben, vielleicht noch mehr, wovon ich gar nichts weiß. Was bleibt für mich? Geschichten – erlebte, gehörte, aufgesogene. Es bleiben Sätze: Impulse können von außen kommen, Veränderung geschieht immer von innen. (Tobi) Wir haben die Möglichkeit, jeden Moment zu einem schöpferischen zu machen. (Elke nach Ina Schmitz) Zwischen Impuls und Handlung sollte Raum für Denken liegen. (Elke nach Simone Veil) Es bleiben Menschen, die ich kennenlernen durfte und die ich nun zu meinen Bekannten und manche sogar zu meinen Freunden zählen darf. Was bleibt noch? Gelerntes: Namen, Kräuter- und Küchenwissen (Joghurt wird beim Umrühren flüssig). Ich bin so reich und beschenkt und dankbar gegangen. Ich bewahre all das in meinem Herzen auf.



Tobias Premauer