Bonjour Tristesse oder der Blick über die Felder
Die weiten Felder von Orion haben mehrfach ihre Farbe und Textur geändert, seit ich hier angekommen bin. An einem erstaunlich warmen, wolkenlosen Abend Mitte April haben sie mich mit zartem Grün begrüßt, gespickt mit stoisch wiederkäuenden und glöckchenklingenden Schafen.
Meine ersten Tage im Schloss sind gefüllt mit Marktbesuchen auf holprigem Französisch, Apéros mit vielen freundlichen Gesichtern und einer ersten Fahrt zum Strand. Auf den kurvigen Autofahrten teilt Tobi, der große Geschichtenerzähler, seine zahllosen Anekdoten aus der Gegend mit mir. Dank seinen Erzählungen und den vielen neuen Eindrücken webt sich die Region in meiner Vorstellung langsam, zaghaft zu einem Zuhause zusammen. Ich beginne, mich in meine große Aufgabe für dieses Praktikum einzuarbeiten: Terre et Temps. Elkes Leidenschaft für das viertägige Kunst- und Kulturfestival ist ansteckend. Ausschweifend berichtet sie mir von den Projekten der verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern aus ganz Europa, den Kooperationen mit lokalen Vereinen und Kulturschaffenden und vor allem von der Idee der Convivialité. Sie betraut mich mit der Aufgabe, eine Crowdfunding-Kampagne für das Festival zu entwerfen und durchzuführen. Also verbringe ich die nächsten Wochen, zwischen frischen Croissants zum Frühstück und gemeinsamen Abendessen in der Küche, mit Entwürfen auf Canva, Meetings auf Zoom und dem frisch erstellten Crowdfunding-Account auf Ulule.
Im Mai wachsen die Blumen auf den satten Wiesen höher und bunter, das Weizenfeld am Wasserturm hat seinen samtgrün im Wind wiegenden Mantel abgelegt; golden strahlt es jetzt dem bedeckten Himmel entgegen.
So wechselhaft wie das Wetter sich diesen Sommer zeigt sind auch meine Begegnungen im Schloss: durch die regelmäßigen Denkwochen treffe ich auf immer neue Köche, Referentinnen und Gäste, und keine dieser Begegnungen möchte ich missen. Mir wird bewusst: kultiviert man eine Atmosphäre der Offenheit und des Austausches, werden ebenso offene, spannende Menschen davon angezogen. Elkes und Tobis Leidenschaft für ihre Vision steckt jeden an, der auch nur wenige Tage im Château verbringt. Abseits der Denkwochen beschäftige ich mich während der Frühsommerwochen mit der Produktion für die Terre et Temps Instagram-Seite. Das stellt sich als eine gute Möglichkeit heraus, um gemeinsam mit den anderen Praktikantinnen die Region zu erkunden. Mit dem alten Renault 4, den Tobi fahrtauglich gemacht hat, düsen wir in Richtung Bayonne, nach Gurs und Navarrenx, oder auch nur um die Ecke nach Sauveterre, immer mit einer neuen Video-Idee im Kopf.
Ab Juni werden dann die ersten Felder geerntet, der Bauer mäht mit seinem alten Traktor verschiedene Muster in das leicht abfallende Gelbgrün: mal konzentrische Kreise um den einsamen Baum herum, mal orientierungslose Schlangenlinien, immer mit dem Ziel, das frische Heu noch möglichst vor dem nächsten Regenschauer einholen zu können.
Und während die Bauern auf ihre Felder hasten, arbeiten wir mit Hochdruck an der Crowdfunding-Seite für das Terre et Temps. Fieberhaft und mächtig stolz öffnen wir Mitte Juni unsere Seite für Spenden. In den folgenden Wochen folgt unser Tagesrhythmus den neu eingehenden Spendenbeiträgen. Die Arbeit in der Küche mit den sonnenprallen Tomaten, den frischen Kräutern und dem knackigen Salat aus dem Garten ist eine willkommene Abwechslung zu den kalten Plastiktasten meines Laptops. Wenn Köchin Amor gerade keine Hilfe brauch, verbringe ich die sonnigen Julitage in Sauveterre im Café am Fluss, wo ich von meinem Arbeitsplatz aus den Leuten beim Baden zusehen kann. Ich lerne die Stammgäste
des Cafés kennen und besuche meine erste große Fête, inklusive dem angemessen hohen Fleisch- und Weinkonsum, den Dorffeste hier mit sich bringen.
Als sich meine Zeit in Orion dem Ende zuneigt, liegen die Hügel in gelbbraunen Stoppeln vor mir. Die Heuballen, die weit hinten am Horizont im Abendlicht zu erstrahlen pflegten, sind restlos eingeholt, und zwischen den Regenschauern drückt die gnadenlose Augusthitze auf die Hügel und das alte Gemäuer, das sich zwischen ihnen erhebt.
Meine letzten Tage im Schloss verbringe ich allein, ziehe mich in mich selbst zurück, um zu reflektieren. Der Abschied schmerzt mich, und ich finde Trost in Geschichten. Am letzten Tag im Café in Sauveterre lese ich Bonjour Tristesse von Francoise Sagan: „Da steigt etwas in mir auf, das ich mit geschlossenen Augen empfange und bei seinem Namen nenne: Traurigkeit – komm, Traurigkeit.“
So viel ist in diesen knapp vier Monaten passiert – ich kann kaum glauben, dass erst zwei Drittel des Jahres vorüber sind. So viele einzigartige Menschen, Erlebnisse, Ideen, Erfahrungen, die sich in so einen kurzen Lebensabschnitt drängen. Was für eine wilde, wunderschöne Zeit. Danke, Elke und Tobi.
Julia Teuchner